Lassen EU-Staaten Opfer von Gewalttaten im Stich?

Ein klares „Nein“ war es dann doch nicht, das Resümee der Veranstaltung am 26. Juni 2019, zu der die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) und der WEISSE RING Verbrechensopferhilfe ins Haus der Europäischen Union geladen hatten. Denn in Österreich gibt es ausgezeichnete Opfer-Rechte. Aber es gibt viel zu wenig Information darüber bzw. erreicht die Information die Opfer nicht.

Im Zentrum stand die Studie „Justice for victims of violent crime“. Ziel des Forschungsprojekts war es, den Stand der Entwicklung der Opferrechte in der Praxis der einbezogenen Mitgliedstaaten festzustellen, um auf Basis empirischer Forschungsergebnisse Institutionen und Mitgliedstaaten der EU beraten zu können.

Die vier Bände der Studie können bei FRA bestellt werden

Gastgeber Wolfgang Bogensberger ging der Frage nach, woher die Verpflichtung der EU, sich um Opfer von Gewaltdelikten zu kümmern, kommt und lud die Zuhörer*innen zu einem historischen Streifzug ein. Dieser endete mit der EU-Opferschutz-Richtlinie 2012/29, die bis November 2015 umzusetzen war: „Nun stellt sich die Frage, ob diese Umsetzung auch gelungen ist. Denn es sind zwei Paar Schuhe, ob etwas nur festgeschrieben oder dann auch gelebt wird.“

Udo Jesionek, Präsident WEISSER RING, fordert eine verbesserte gesetzliche Grundlage für die Kooperation zwischen Polizei und Opferhilfe-Einrichtungen: „Es ist erschütternd, dass so viele Dinge gemacht werden könnten und sollten, aber nichts geschieht. Wer auf der Strecke bleibt, das sind die Opfer.“

Albin Dearing, FRA, präsentierte die wesentlichen Ergebnisse der Studie. „Opfer von Gewalt haben einen legitimen Anspruch darauf, als Parteien am Verfahren teilzunehmen“, hielt er einleitend fest. „Staatliche Behörden sind beauftragt, die menschenrechtlichen Ansprüche Einzelner zu gewährleisten und im Falle ihrer Verletzung zu verteidigen.“

Die wichtigsten Ergebnisse

Gewaltopfer möchten mehr Möglichkeiten, aktiv am Strafverfahren mitzuwirken: Mehr als zwei Drittel (71%) der insgesamt interviewten Gewaltopfer ​hätten es vorgezogen, mehr Möglichkeiten zu haben, am Strafverfahren aktiv mitzuwirken. 27% der interviewten Opfer stimmten der Aussage, dass sie lieber stärker involviert gewesen wären, stark zu, was eine gewisse Enttäuschung über die im Verfahren erlebte Marginalisierung ausdrückt.

Zusammenhang zwischen Gesetzeslage und realer Situation der Opfer ist komplex: In manchen Ländern mit extensiven prozessualen Partizipationsrechten von Gewaltopfern (nämlich in Deutschland, Österreich und Polen) sind die Opfer mit der erlebten realen Situation weniger zufrieden als in Ländern, wo Gewaltopfer kaum Mitwirkungsrechte haben (in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich).

Erwartungen an die Möglichkeit der Mitwirkung beeinflussen die Wahrnehmung des Erlebten: Zum einen sind die Erwartungen der Opfer von der Gesetzeslage nicht unbeeinflusst. Opfer in Ländern ohne gesetzliche Partizipationsrechte haben im Schnitt von vornherein geringere Erwartungen. Zum anderen führt die gesetzliche Anerkennung von prozessualen Opferrechten in manchen Ländern zu paradoxen Effekten. So reagieren vor allem in Deutschland und Österreich manche PraktikerInnen (und insbesondere Staatsanwält*innen und Richter*innen) ablehnend auf die Ausweitung der Opferrechte und bestehen darauf, Gewaltopfer nach wie vor primär in ihrer instrumentellen Funktion als ZeugInnen zu sehen. Von den 12 in Österreich interviewten Staatsanwält*innen, Richter*innen und Anwält*innen erblickten 11 die primäre Funktion des Gewaltopfers in dieser Rolle als Zeug*in, keine der interviewten Jurist*innen sah die nach der Stafprozessordnung bestehende Stellung des Gewaltopfers als Verfahrenspartei als maßgeblich an (eine Antwort blieb unklar).

Was eine Stärkung der Rolle der Opfer für die Balance zwischen Strafverfolgung und Verteidigung bewirken würde, wird in den teilnehmenden Ländern sehr unterschiedlich eingeschätzt: Von den 14 in Deutschland und Österreich interviewten Richter*innen und Staatsanwält*innen stimmten 58% der Aussage zu, dass eine Stärkung der Rolle der Opfer im Verfahren die zwischen Strafverfolgung und Verteidigung bestehende Balance gefährden könnte, 29% stimmten dem sogar stark zu. Demgegenüber hat von den 13 in Polen und Portugal interviewten Staatsanwält*innen und Richter*innen niemand dieser These zugestimmt.

Opfer stellen österreichischen Opferhilfeeinrichtungen ein positives Zeugnis aus: Bei der Frage der Zufriedenheit der Opfer mit den Leistungen der Opferhilfeeinrichtungen schneidet Österreich deutlich besser ab als die anderen 6 untersuchten Länder. Dem entspricht, dass in Österreich am wenigsten Opfer angeben, sie hätten gerne mehr über ihre Rechte und ihre Rolle im Verfahren gewusst. Immerhin geben aber in Österreich noch etwa 40% der Opfer an, sie hätten gerne mehr rechtliche Beratung erhalten. In Deutschland, Polen und Portugal sind es allerdings über 80%.

Opfer bezweifeln, dass Polizei ihre Ermittlungsaufgabe ernst nimmt und fühlen sich überdurchschnittlich oft nicht respektvoll behandelt: Der Aussage, dass die Polizei ihre Ermittlungsaufgabe ernst genommen habe („The police appeared to be committed to an effective investigation“), stimmten 5 der in Österreich interviewten Opfer zu, während 6 widersprachen. Nur in Frankreich widersprachen mehr der interviewten Opfer (7). Der Aussage, die Polizei habe sie respektvoll behandelt, widersprachen 6 der 12 in Österreich dazu befragten Opfer, das sind mehr als in den anderen in die Forschung einbezogenen Staaten.

Kritische Sicht der Opfer wird durch andere Gruppen bestätigt – auch von Vertreter*innen der Polizei: Diese kritische Sicht der Opfer wird von den in Österreich interviewten Praktiker*innen mehr als bestätigt. Dem Statement, dass Maßnahmen zur Stärkung von professionellen, respektvollen und diskriminierungsfreien Einstellungen und Umgangsformen der Polizei zu einer Verbesserung des Anzeigeverhaltens von Opfern führen könnten, stimmten 19 der 21 in Österreich interviewten Praktiker*innen zu, davon 8 sogar stark. Das sind die höchsten Zustimmungswerte von allen beforschten Ländern. Der Aussage, dass Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Polizei das Anzeigeverhalten von Opfern verbessern könnten, stimmten 17 der 21 in Österreich dazu interviewten Praktiker*innen zu, davon 7 stark. Das sind die zweithöchsten Zustimmungswerte.​ (Von den 5 in Österreich dazu befragten Polizist*innen stimmen alle zu, 3 sogar stark.)

Anwesenheit des Beschuldigten im Verfahren führt in Österreich vergleichsweise oft zu Situationen, die das Opfer als einschüchternd erlebt: Von 11 Opfern, denen diese Frage gestellt worden ist, stimmten 7 der Aussage zu, dass es im Verfahren Situationen gegeben habe, in denen sie die Anwesenheit des Beschuldigten als einschüchternd (‚intimidating‘) erlebt haben. (Österreich rangiert damit an dritter Stelle nach Frankreich und Portugal.)

„Wir geh’n vorbei und seh’n es nicht“

Dina Nachbaur, Geschäftsführerin WEISSER RING, setzte sich mit der Frage auseinander, „über wen wir sprechen, wenn wir über Gewaltopfer sprechen“. Denn auch Mitarbeiter*innen von Opferhilfe-Einrichtungen können nur über jene reden, die mit ihnen in Kontakt treten. Und das sind – wie ausführliche Akten-Analysen zeigen – nur ein Bruchteil derer, die tatsächlich Opfer von Gewalt werden. Und auch Befragungen können nur jene erreichen, die gewillt und in der Lage sind, sich befragen zu lassen.

Um Hilfe in Anspruch nehmen zu können braucht es zwei wesentliche Voraussetzungen, nämlich:

  • dass Betroffene sich selbst als Opfer wahrnehmen und
  • dass sie auch von ihrem Gegenüber als solche erkannt werden.

Dina Nachbaur kommt in ihrem Vortrag zu dem Schluss, dass beides leider oft nicht gewährleistet ist: „Das liegt zum einen daran, dass die verständliche und rechtzeitige Information von Betroffenen nach wie vor bei Polizei und Gericht nur unzureichend gelingt. Auf der anderen Seite liegt es auch daran, dass viel zu viele Opfer nicht als solche anerkannt werden. Das betrifft vor allem junge Männer – oft mit Migrationshintergrund.“

„Wir haben in Österreich noch lange nicht genug getan, damit alle Opfer von Gewalttaten ihre Rechte angemessen in Anspruch nehmen können und die Unterstützung bekommen, die sie individuell brauchen“, ist Dina Nachbaur überzeugt.

Deshalb ersucht sie um Solidarität mit diesen Opfern und mit den allgemeinen Opferhilfe-Einrichtungen, die für diese da sind und endet mit einem Zitat von Falco: „Wenn nicht, wenn nicht, dann nicht.“

Podiumsdiskussion

Im Anschluss an die Vorträge diskutierte eine hochkarätig besetzte Runde an Expert*innen aus Justiz, Polizei, Wissenschaft und Opferhilfe. Im Lauf der Diskussion wurden zahlreiche Problemstellungen angesprochen und zum Teil auch sehr kontroversiell diskutiert.

Eva Schuh: „Verbesserungen im Umgang mit Opfern sind im Zeitvergleich durchaus sichtbar – sowohl bei der Exekutive als auch bei der Justiz und im Gesundheitswesen. Leider steht kein Rechtsmittel zur Verfügung, wenn Opferrechte nicht gewahrt werden.“ Außerdem verwies sie auf die Problematik des Victim Blaming bzw. des Aberkennens des Opferstatus, insbesondere wenn von Partnergewalt betroffene Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben.

Ursula Kussyk: „Nach wie vor gibt es vor allem im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Frauen zahlreiche Mythen. Das reicht von der Unterstellung, dass Frauen sexuelle Übergriffe erfinden würden bis hin zu der noch immer verbreiteten Meinung, dass sexuelle Gewalt unter bestimmten Bedingungen erlaubt sei.“ Meist wollen Frauen, die sich bei einschlägigen Notruf-Einrichtungen melden, gar keine Anzeige erstatten. Und wenn sie es doch tun, dann werden die Verfahren in einem Großteil der Fälle eingestellt.

Sonja Scheed: „Die juristische Prozessbegleitung ist eine qualifizierte, anwaltliche Dienstleistung. Sie ist kostenlos und niederschwellig verfügbar, denn es genügt bereits ein Anruf beim Opfer-Notruf, um abzuklären ob ein Anspruch besteht. Die Leistung steht einer klar definierten Gruppe zu. Es gibt aber Opfer, die gar nicht daran denken, dass sie Opfer sind.“

Siniša Jovanović: „Die Arbeit der Polizei ist in erster Linie Täter zentriert. Als Ersteinschreiter müssen Exekutivbeamte oft sehr rasch eine fundierte Einschätzung der Gesamtsituation treffen und auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen und handeln.“ Es sei auch für erfahrene Beamte oft nicht einfach, die dafür nötigen Fragen zu stellen.

Oliver Scheiber verweist auf das grundsätzliche Problem der Verständlichkeit juristischer Texte: „Das Gericht kann sich generell schwer verständlich machen. Menschen verstehen zumeist weder ihre Rechte noch das Urteil.“ Das liege unter anderem daran, dass die Texte für die Rechtsmittelinstanz formuliert werden und nicht an die Opfer gerichtet sind. Leichtere Sprache, mündliche Information und persönliche Beratungsgespräche könnten hier Abhilfe schaffen. Noch schwieriger wird es, wenn gedolmetscht werden muss. Hier fehlen qualifizierte Dolmetsch für eine Vielzahl an Sprachen, weil diese in Österreich gar nicht studiert werden können.

Albin Dearing stellt in der Diskussion die Frage, warum der Glaube, das Verfahren würde durch die Beteiligung der Opfer aus den Fugen geraten, in Österreich so weit verbreitet ist: „Der Gesetzgeber hat sich dazu bekannt, dass das Opfer im Verfahren eine Parteienstellung hat. Das wird von der Justiz sehr oft nicht mitgetragen und das Opfer wird auf die Rolle als Zeug*in reduziert.“

Teilnehmer*innen Podiumsdiskussion

Albin Dearing, Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA)
… studierte Rechtswissenschaften, arbeitete in verschiedenen Positionen an der Johannes Kepler Universität in Linz und dem Max-Planck Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg. Neben seinen beruflichen Tätigkeiten in den Ministerien für Inneres und Justiz, war er auch am EuGH in Luxemburg Referent, im Kabinett von Maria Berger sowie Beteiligter an verschiedenen EU-Twinning-Projekten. Er ist Autor mehrerer Bücher im Rechtsbereich.
Siniša Jovanović, Landespolizeidirektion Wien
… studierte Rechtswissenschaften mit Schwerpunktsetzung Völkerrecht und Menschenrechte an der Karl-Franzens-Universität. Im Jahr 2019 schloss er zusätzlich das Masterstudium „Strategisches Sicherheitsmanagement“ an der FH Wr. Neustadt ab. Seine berufliche Laufbahn begann als juristischer Referent bei der Volksanwaltschaft. Seit 2014 ist er juristischer Referent der Landespolizeidirektion in Wien. Derzeit leitet Siniša Jovanović das Referat Personalentwicklung und ist zugleich Menschenrechtsbeauftragter der Landespolizeidirektion Wien. In dieser Funktion obliegt ihm unter anderem die Vernetzung mit Menschenrechtsorganisationen, die Förderung menschenrechtskonformen Handelns und die praktische Umsetzung der Erkenntnisse des Büros Qualitätssicherung- und Wissensmanagement auf dem Gebiete der Menschenrechte.
Ursula Kussyk, BAFÖ-Bundesverband der Autonomen Frauennotrufe Österreichs
… ist Diplomierte Sozialarbeiterin und seit 1992 als Beraterin im Verein Notruf Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen tätig. Mittlerweile leitet sie die Frauenberatungsstelle. Darüber hinaus ist sie seit 2010 Obfrau des BAFÖ, des Bundes der Autonomen Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt Österreich und seit 2003 Obfrau des Wiener Netzwerkes gegen sexuelle Gewalt an Mädchen, Buben und Jugendlichen. Sie ist Vortragende bei der Ausbildung zur psychosozialen Prozessbegleitung und bei der Weiterbildung zur juristischen Prozessbegleitung und hat bei der Entwicklung des entsprechenden Curriculums mitgearbeitet.
Sonja Scheed, Rechtsanwältin und juristische Prozessbegleiterin
… studierte Rechtswissenschaften am Juridicum der Uni Wien, absolvierte im Anschluss an das Studium die Ausbildung als Rechtsanwaltsanwärterin und legte 1993 die Rechtsanwaltsprüfung ab. Seit November 1995 ist sie eingetragene Rechtsanwältin mit einer Kanzlei in 1220 Wien. Neben dem Strafrecht, in welchem sie sowohl als Verteidigerin, als auch (seit 2000) als juristische Prozessbegleiterin tätig ist, sind ihrer Tätigkeitsfelder das Familienrecht und das allgemeine Zivilrecht. Seit über 10 Jahren berät sie für den WEISSEN RING am Opfer-Notruf 0800 112 112.
Oliver Scheiber, Bezirksgericht Wien Meidling
… ist Strafrichter und leitet das Bezirksgericht Meidling in Wien. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien und an der FH der Wirtschaftskammer Wien, vertritt die österreichische Justiz als Experte in internationalen Gremien und ist Vortragender in der Justizausbildung. Er ist Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie Wien und ua Mitglied der Rentenkommission der Volksanwaltschaft sowie des Vorstands von WEISSEM RING und SOS Mitmensch.
Eva Schuh, Gewaltschutzzentrum Oberösterreich
… studierte Rechtswissenschaften an der Juridischen Fakultät der Universität Wien. Seit 2007 arbeitet sie beim Gewaltschutzzentrum in Oberösterreich, anfangs als stellvertretende Geschäftsführerin, seit Anfang 2018 als Geschäftsführerin. Die zertifizierte Schuldnerberaterin absolvierte auch Lehrgänge zur Mediation und Konfliktregelung sowie zu systemischem Coaching. Des Weiteren hat sie an den Curricula zur Aus- und Weiterbildung in der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung mitgearbeitet und ist als Trainerin tätig.

Moderation

Dina Nachbaur
… arbeitet als Juristin und Soziologin seit 20 Jahren im Bereich der Opfer-Rechte und Opfer-Hilfe. Nach Tätigkeit im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich wechselte sie ans Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte. Seit 2003 engagiert sie sich beim WEISSEN RING, anfangs ehrenamtlich, mittlerweile als Geschäftsführerin.

Einladung zur Veranstaltung

Erstellt am 3.9.2019

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