Tag der Kriminalitätsopfer 2022

Die radikale Einsamkeit der Opfer

Am 32. Europäischen Tag der Kriminalitätsopfer organisierten WEISSER RING und Bundesministerium für Inneres zum mittlerweile zwölften Mal ein gemeinsames Symposium. Das diesjährige Thema lautete „Terror – eine besondere Form der Gewalt und ihre Folgen“. Ausgehend vom Terroranschlag vom 2.11.2020 beleuchteten die Vortragenden verschiedene Aspekte des Themas und zeigten auf, welche Erkenntnisse sich aus den Erfahrungen für die Zukunft ziehen lassen.

Allen gemeinsam war die Erkenntnis, dass das Phänomen Terror in seinen Auswirkungen auf Betroffene – sowohl auf jene, die vor Ort zu Opfern werden, als auch auf Hinterbliebene – über das hinausgeht, womit Expert*innen in anderen Bereichen der Kriminalität konfrontiert sind. Wie Prof. Antony Pemberton es formuliert: Terror lässt die Opfer in einem Zustand „radikaler Einsamkeit“ zurück.

Vom Terroranschlag bis zum Terroropfer-Fonds

Vortragende: Mag.a Natascha Smertnig, Geschäftsführerin WEISSER RING

Die Hilfe des WEISSEN RINGS für Opfer des Terroranschlags vom 2.11.2020 ruht auf mehreren Säulen. Von Anfang an verfügbar waren alle Instrumente aus dem Verbrechensopfergesetz (VOG) sowie die allgemeine Opferhilfe mit Beratung, Betreuung und – im Bedarfsfall – finanzieller Unterstützung aus Mitteln des Vereins. Seit Ende September 2021 stehen darüber hinaus die Hilfsangebote des Terroropfer-Fonds zur Verfügung.

Anlaufstelle für Betroffene

Dem WEISSEN RING war es von Anfang an wichtig, jene Menschen zu erreichen, die durch den Anschlag zu Opfern geworden waren. Sie brauchen eine Anlaufstelle, an die sie sich vertrauensvoll wenden können.

Die ersten Tage nach dem Anschlag standen ganz im Zeichen von interner und externer Krisenkommunikation, Organisation der benötigten neuen Abläufe sowie von Vernetzung und europäischem Wissensaustausch. Der WEISSE RING stellte sich auf eine große Zahl an Anrufen ein.

Definition des Opferbegriffs

Es stellte sich sehr bald heraus, dass Klärungsbedarf hinsichtlich der Definition des Opferbegriffs laut § 1 Verbrechensopfergesetz (VOG) bestand.

Die ersten Bescheide des Sozialministeriumservice folgten der Logik: Wer körperliche Verletzungen davon getragen hatte, wurde als Opfer behandelt. Wer zwar der Bedrohung ausgesetzt gewesen war, dieser aber ohne körperlichen Schaden entgehen konnte, erhielt keine Unterstützung. Der WEISSE RING ging von Anfang an von einer anderen Interpretation des § 1 VOG aus. Hier konnten wir bereits Mitte November einen allgemeinen Umdenkprozess erreichen.

Terror richtet sich nicht gegen eine bestimmte Person sondern gegen die Gesellschaft als solche und gegen den Staat. Wer am 2.11.2020 tatsächlich verletzt wurde, war zufälliges Ergebnis einer Bedrohung, die allen Anwesenden galt – auch jenen, die körperlich unverletzt blieben. Viele von ihnen würden in der Folge mit psychischen Folgen zu kämpfen haben.

Diese Annahme hat sich inzwischen als richtig heraus gestellt. Wir erleben in der täglichen Arbeit mit Opfern dieses Anschlags, dass viele Betroffene – vor allem solche, die sich erst mit großer Verzögerung Hilfe holen – bis heute schwer unter den psychischen Folgen wie Schlafstörungen, Flashbacks, Angstzuständen oder Panikattacken leiden. Oft genügt der Knall eines geplatzten Reifens, um Betroffene wieder in die Situation zurück zu versetzen.

Gesamtpaket aus Opferhilfe, Verbrechensopfergesetz und Terroropfer-Fonds

Seit Ende September 2021 betreut der WEISSE RING den vom Sozialministerium geförderten Terroropfer-Fonds. Damit erfüllt der WEISSE RING als erste Anlaufstelle für Opfer von Terror nach §14c VOG nun zwei zentrale Aufgaben:

  • Er ist im Rahmen der Opferhilfe-Arbeit Anlaufstelle für alle, die vom Terroranschlag betroffen sind.
  • Er erbringt Hilfeleistungen im Rahmen des Terroropfer-Fonds.

Spenden für Opfer des Terroranschlags

Relativ rasch nach dem Anschlag gab es Unterstützung durch Spenden, darunter eine Spende von SK Rapid, eine Aktion der Zeitung Heute, die noch weitere Unternehmen mit ins Boot holte oder auch zahlreiche private Spender*innen. Zum ersten Jahrestag im Jahr 2021 war der Terroranschlag Thema einer Benefiz-Gala, deren Erlös zur Unterstützung der Opfer an den WEISSEN RING ging. So war es dem WEISSEN RING möglich, Opfer des Anschlags auch finanziell zu unterstützen, sei es durch Vorfinanzierung von Leistungen des Verbrechensopfergesetzes oder auch von Dingen, die im Gesetz gar nicht abgedeckt sind.

Entwicklungspotenzial

Die öffentliche Diskussion über die Rechte der Betroffenen bzw. die Abgrenzung des Opferbegriffs laut Verbrechensopfergesetz, aber auch rund um Themen wie Amtshaftungsklage und Forderungen nach einem Entschädigungsfonds ließ erkennen, dass

  • einerseits das Verbrechensopfergesetz – insbesondere was das Thema Terror betrifft – einer Überarbeitung bedarf
  • andererseits viel zu wenig bekannt ist, welche Leistungen Opfern von Straftaten bereits jetzt zur Verfügung stehen

Die Erfahrungen bestätigten, was auch der internationale Informationsaustausch bereits ergeben hatte: Es ist ein wesentliches Element gelungener Opferarbeit nach einem Terroranschlag, eine zentrale Anlaufstelle zur Verfügung zu stellen. Das ist leider – obwohl mit dem Opfer-Notruf 0800 112 112 des Bundesministeriums für Justiz eine geeignete Stelle zur Verfügung gestanden wäre – nicht im angestrebten Ausmaß gelungen.

Weiterführende Information zum Terroropfer-Fonds

Die Stellung von Terroropfern im Strafprozess

Univ.-Prof.in Dr.in Lyane Sautner, Johannes Kepler Universität Linz, Vizepräsidentin WEISSER RING beleuchtete in ihrem Vortrag die Stellung von Terroropfern im österreichischen Strafprozess. Über welche prozessualen Rechte verfügen Terroropfer in Österreich? Wird die Rechtslage den europäischen Vorgaben gerecht?

Opfer von Terrorismus sind das Ziel von Angriffen gewesen, die letztendlich der Gesellschaft schaden sollten. Aufgrund der besonderen Art der Straftat, die gegen sie begangen wurde, bedürfen sie deshalb möglicherweise besonderer Betreuung, Unterstützung und Schutz. Opfer von Terrorismus stehen mitunter deutlich im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und bedürfen oft der gesellschaftlichen Anerkennung und der respektvollen Behandlung durch die Gesellschaft. Die Mitgliedstaaten sollten daher den Bedürfnissen von Opfern von Terrorismus besonders Rechnung tragen und ihre Würde und Sicherheit zu schützen suchen.“

Dieses, in Erwägungsgrund 16 der EU-Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten, RL (EU) 2012/29, ABl 2012, L 315/57, formulierte Ziel im Umgang mit Terroropfern findet im Normtext der Richtlinie nur geringen Niederschlag. Demgegenüber trifft die EU-Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung, RL (EU) 2017/541, ABl 2017, L 88/19, weitergehende Regelungen für die Hilfe und Unterstützung von Terroropfern.

The meaning of victimisation by terrorism

Prof. Dr. Antony Pemberton, Tilburg Law School

“It was a sunny Tuesday afternoon. For the last hour, I had pushed the pram on the paths around our house. 2003 was an exceptionally hot summer across continental Europe. As I walked back. Mattia Selim was slowly coming out of his deep baby sleep. I probably had a few minutes for a quick call to Baghdad before he would be fully awake and in need of my breast. The yellow post-it was on the other side of the PC screen. Jean-Selim’s new mobile number was written on it. He had proudly dictated it to me in our last phone call three The yellow post-it was on the side of the PC screen. Jean-Sélim’s new mobile number was writen on it. He had proudly dictated it to me in our last phone call some three hours earlier, telling me what a fuss he had made that morning – his first day back on duty afer his short paternity leave – to get it issued to him. The UN mission in Iraq had just received a frst batch of mobile phones and he had successfully argued for one in order to reach his wife with a newly born child at home. I grabbed the post-it with one hand; with the other, I took the mouse to have a quick look at my email inbox. In a matter of a mouse click our family life was changed forever”.

Summary of findings

Victimisation by severe forms of violence can be understood as “a narrative rupture” leaving victims life stories in disarray. It also leaves victims feeling out of sync and disconnected from their social surroundings, what we have termed “radical loneliness”. These features are elevated due to the peculiar characteristics of suicide terrorism, which enhances the meaninglessness of victimisation.

In turn, societal responses to victimisation by terrorism should as a priority seek to support victim’s meaning making, the arduous task of re-storying their lives and allow victims to experience a renewed sense of communion with their closer and more distant social surroundings. Doing so requires taking victim’s own first-hand perspectives seriously and minimizing the extent to which society’s responses, including those by law enforcement and criminal justice, ignores victims’ viewpoints.

Der Terroranschlag von Wien aus Perspektive einer Polizistin

Vortragende: AbtInsp. Eva Nebesky, Polizeiinspektion 1., Brandstätte

Da ich am Abend des 2.11.2020 zum Zeitpunkt des Anschlages im Streifendienst mit dem Funkwagen unterwegs war, mit meinem Kollegen eine Schlüsselposition im sogenannten „Bermudadreieck“ bezogen hatte und von ca. 20.00 – 04.00 Uhr direkten Opferkontakt hatte, wurde ich von der Organisation WEISSER RING gebeten, meine Erlebnisse dieser Nacht zu schildern.

Schon auf der Zufahrt in die Seitenstettengasse kamen uns Leute entgegen, die panisch wegliefen bzw. auch mit ihren Fahrzeugen neben uns anhielten und uns in Richtung „Bermudadreieck“ verwiesen. Aus einsatztaktischen Gründen haben mein Kollege und ich dann die Schlüsselposition Seitenstettengasse/Judengasse bezogen. Ich kann mich noch erinnern, dass sogleich ein Mann aus einem Lokal zu mir kam und mir erzählte, dass alle Personen in den Hof des Gebäudes geflüchtet seien und dass es mehrere Verletzte gäbe. Die nun folgenden Stunden verbrachten mein Kollege und ich in unmittelbarem Kontakt mit den Opfern.

Schlussfolgerungen

Ich kann nur immer wieder betonen, wie sehr ich jene Menschen bewundere, welche bei uns ausharrten, bis die Rettung hinzugezogen werden konnte und bis sie schließlich sicher nach Hause durften. Es war ein unglaublicher Zusammenhalt zu spüren!

Es ist meine Überzeugung, dass dieser Abend bei jedem von uns Spuren hinterlassen hat. Bei manchen sind diese Spuren nur oberflächlich und vielleicht schon verblasst, bei anderen haben sie tiefe Abdrücke hinterlassen. Deshalb denke ich, dass alle Menschen, welche davon persönlich betroffen waren, die Art und den Umfang an Betreuung bekommen sollten, den sie für sich benötigen.

Opferarbeit nach dem Terroranschlag von Wien

Vortragende:

  • Mag.a Christine Tinzl, Opferrechte, WEISSER RING
  • Dr. Tobias Körtner, Leiter Opferhilfe, WEISSER RING

In der Opferhilfearbeit zeigt sich, dass die durch einen Terroranschlag erlebte Belastung eine andere Qualität und auch ein anderes Ausmaß hat als bei den meisten anderen Fällen von situativer Gewalt. Die Gruppe der Betroffenen ist sehr weit gefasst, was über den den klassischen Opferbegriff hinausgeht.

Das Geschehen hinterlässt auch Spuren bei den psychosozialen Berater*innen, die mit einer großen Zahl an ähnlichen Schilderungen konfrontiert sind. Dadurch entsteht ein teilweise sehr dichtes, detailliertes Bild der schrecklichen Ereignisse in der Beratung.

Es ergeben sich zudem noch offene Fragen, die nicht vom Verbrechensopfergesetz berücksichtigt sind.

Generell stellt die Arbeit des Terroropfer-Fonds und des WEISSEN RINGS Pionierarbeit dar. Es bleibt herausfordernd, Kriterien für die Bemessung von Entschädigungen für Opfer von Terror in Österreich herauszuarbeiten und aus den Erkenntnissen dieses Projekts Vorschläge für die Evaluierung bestehender Gesetze wie des Verbrechensopfergesetzes zu erarbeiten.

Der internationale Vergleich zeigt, dass es – auch innerhalb der EU – sehr große Unterschiede gibt, welche Leistungen Opfer von Terror jeweils erhalten und von wem sie erbracht werden.

Erste Verbesserungsvorschläge des WEISSEN RINGS

Die Ereignisse am 2.11.2020 haben an vielen Stellen einen Lernprozess ausgelöst. Das Verbrechensopfergesetz (VOG) wird einer Evaluierung unterzogen. Hierzu erscheinen folgende Punkte im Licht der Ereignisse seit dem Terroranschlag von Wien besonders wichtig:

  • Nach einem Terroranschlag sollte eine zentrale Tel.-Nr als Anlaufstelle für die Opfer kommuniziert werden. Sinnvoll erscheint hier wohl der zentrale 24-Stunden täglich erreichbare Opfer-Notruf 0800 112 112 des Bundesministeriums für Justiz.
  • Vollständige Umsetzung der EU-Opferschutz-Richtlinie, insbesondere von Artikel 8 und somit Gleichstellung von Opfern situativer Gewalt mit jenen von Gewalt in der Familie. Das betrifft insbesondere die Übermittlung der Daten dieser Opfer an den WEISSEN RING zumindest nach Einholung von deren Zustimmung.
  • Verankerung der Opfer-Definition im Zusammenhang mit Terror im Verbrechensopfergesetz. Die Opferdefinition sollte ähnlich wie in § 65 Abs. 1 lit. c StPO alle Personen umfassen, die durch eine Gewalttat unmittelbar oder mittelbar betroffen sind.
  • Evaluierung der Höhe der im VOG vorgegebenen Entschädigungen

Zwei Minuten Rückblick auf das Symposium

Zum Weiterlesen

Fotos: WR/Haumer, Lyane Sautner, Eva Nebesky, NSCR, primephoto

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