Eine junge Frau wird nach einem Casino-Besuch von ihrem Begleiter mit einer Schneestange erschlagen. Bruder und der Vater des Opfers werden nach dem Bekanntwerden der Tat von einem Redakteur der krone.at angerufen und befragt.
Die beiden Angehörigen erfahren erst durch den Anruf des Redakteurs vom Tod der Schwester bzw. Tochter. Bereits innerhalb der ersten Sätze des Gesprächs war für den Redakteur erkennbar, dass die Betroffenen noch nichts vom Tod ihrer Angehörigen wussten. Die Betroffenen berichten, er habe dennoch die telefonische Befragung fortgesetzt. Darüber hinaus wurde dem Artikel – ohne Einverständnis der Angehörigen – ein Foto von einer privaten Social Media-Seite des Opfers beigefügt. Zwar waren die Gesichtszüge der Abgebildeten verpixelt, als Fotocredit wurde jedoch das Kürzel „zVg“ – also zur Verfügung gestellt – angegeben.
Der WEISSE RING hat sich mit den Artikeln und mit einem Gedächtnisprotokoll des Bruders an den Presserat gewendet. „Der Schutz der Opferrechte auf allen Ebenen – auch im Zuge der medialen Berichterstattung – ist eine zentrale Aufgabe des WEISSEN RINGS“, hält Udo Jesionek, Präsident WEISSER RING dazu fest. „Diese Rechte sahen wir sowohl im Umgang mit den Hinterbliebenen als auch durch die Verwendung des privaten Fotos verletzt.“ Einen nahestehenden Menschen durch ein Tötungsdelikt zu verlieren, versetzt Menschen in einen Ausnahmezustand. Auch die Hinterbliebenen sind Opfer des Verbrechens und müssen als solche behandelt werden. Das reicht von der Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte bis hin zum Anspruch auf Opferhilfe und Unterstützungsleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG).
Der Presserat hat entschieden
Seit 15. September liegt nun das Urteil des Presserats vor. Der Senat stellt gemäß § 20 Abs. 2 lit. a der Verfahrensordnung der Beschwerdesenate einen Verstoß gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex fest. Und fordert die „Krone Multimedia GmbH & Co KG“ Gemäß § 20 Abs. 4 VerfO auf, die Entscheidung freiwillig im betroffenen Medium zu veröffentlichen oder bekanntzugeben.
Das Verfahren wegen der möglichen unlauteren Materialbeschaffung, im Sinne von Punkt 8 des Ehrenkodex wurde jedoch eingestellt, da die Aussagen der Angehörigen und des verantwortlichen Redakteurs gegensätzlich waren und ein Verstoß somit nicht eindeutig festgestellt werden kann. Dies sei nur möglich, wenn der zugrunde liegende Sachverhalt unstrittig ist bzw. dieser im Verfahren vor dem Presserat zweifelsfrei geklärt werden kann.
Retraumatisierung im öffentlichen Interesse?
Opfer von Straftaten – insbesondere auch minderjährige Betroffene – und deren Angehörige sind gefährdet, durch Recherchemethoden des „Sensationsjournalismus“ retraumatisiert zu werden. Dem entgegen steht der journalistische Anspruch, durch detaillierte Berichterstattung dem öffentlichen Interesse an Information nachzukommen – nicht zuletzt im vom „Quotendruck“ charakterisierten (wirtschaftlichen) Wettbewerb der Medien.
„Der Schutz von Verbrechensopfern vor Retraumatisierung und sekundärer Viktimisierung durch die öffentliche Berichterstattung über das, was ihnen geschehen ist, die damit verbundene Publizität einerseits und das legitime Interesse der Bevölkerung an möglichst umfassender Berichterstattung über kriminelle Vorgänge andererseits sind zwei Eckpfeiler, die grundsätzlich miteinander im Widerspruch stehen und die es zu verbinden gilt“, so Udo Jesionek.
Als Opferhilfe-Einrichtung ist der WEISSE RING nicht prinzipiell gegen mediale Berichterstattung. Immer wieder hat gerade die Berichterstattung über gravierende Verbrechen überhaupt erst bewirkt, dass ein Problem ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt ist und Opfer sich Hilfe gesucht haben. Es geht viel mehr darum, wie diese Berichterstattung erfolgt und wohin der Blick der Leser:innen gelenkt wird. Es sollte unbedingt auf einen sensiblen Umgang mit Opfern und deren Angehörigen geachtet und auf das Leid und das Pietätsgefühl der Opfer sowie naher Angehöriger Rücksicht genommen werden.
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09 / 2023