Opfer von Gewalt zu werden erschüttert das eigene Welt- und Selbstbild und stellt dieses in Frage. Besonders dann, wenn die Gewalt überraschend und unvermittelt über einen hereinbricht – wie im Fall situativer Gewalt. Opfer von situativer Gewalt zu werden bedeutet, von einer fremden Person verletzt oder bedroht zu werden – sei es am Arbeitsplatz oder auf offener Straße oder auch im Internet.
Das Feld situativer Gewalt umfasst eine riesige Bandbreite an Delikten und Spezialbereichen, vom Handtaschenraub über Körperverletzungen bis hin zu Terror oder Hasskriminalität und betrifft sämtliche Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsgruppen. Die überraschend auftretende, bedrohliche Situation reißt Betroffene aus ihrem Leben heraus, raubt ihnen das Sicherheitsgefühl und löst oft langfristige Ängste aus. Reaktionen wie Überängstlichkeit, Panik, unkontrollierbare Erinnerungen (Flashbacks) oder Schlaflosigkeit sind gesunde und normale Reaktionen auf solch eine außergewöhnliche Situation.
Wie für Opfer anderer Gewaltformen auch ist für Opfer situativer Gewalt das Bedürfnis nach Anerkennung des erlittenen Unrechts besonders wichtig. Da die Täter:innen jedoch meist unbekannt sind, müssen diese erst ausgeforscht werden. Die Wartezeit, bis das gelingt, wird von Betroffenen zumeist als besonders belastend empfunden.
Erschwerend dazu kommt, dass Betroffene in puncto Opferhilfe zumeist in sehr hohem Maße auf sich selbst und ihre Eigeninitiative angewiesen sind, da im Fall situativer Gewalt keine automatische Benachrichtigung der zuständigen Opferhilfe-Einrichtung erfolgt. Dadurch fallen immer wieder Menschen um ihre Rechte um, stellen keine Anträge an das Sozialministeriumservice, versäumen Fristen und erhalten so dringend benötigte Hilfestellungen wie beispielsweise die kostenlose Prozessbegleitung nicht.
Die rechtliche Situation im Fall situativer Gewalt
Obwohl der Anteil situativer Gewalt an der insgesamt ausgeübten Gewalt weitaus höher ist als bisher angenommen, wird das Thema im Vergleich zu Gewalt im persönlichen Nahbereich bisher leider stiefmütterlich behandelt.
Im Fall von Gewalt im persönlichen Nahbereich müssen laut § 25 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) die Daten der Opfer an die dafür zuständigen Einrichtungen übermittelt werden, damit diese dann die notwendigen Maßnahmen setzen können.
Eine analoge Bestimmung für Opfer situativer Gewalt fehlt. Es wird immer eingewendet, dass der Fokus von § 25 SPG primär die Prävention von Gewalt ist und daher eine parallele Bestimmung für Opfer situativer Gewalt nicht möglich und datenschutzrechtlich bedenklich sei. Allerdings wäre es absolut möglich, auch Opfer situativer Gewalt rasch und unbürokratisch über ihre Rechte in Kenntnis zu setzen.
Der Lösungsvorschlag des WEISSEN RINGS
Eine Möglichkeit, die angestrebte Gleichstellung von Opfern situativer Gewalt zu erreichen, wäre eine gesetzliche Verpflichtung, Opfer schwerer Gewalttaten durch die Kriminalpolizei zu befragen, ob sie mit der Übermittlung ihrer Daten an die gemäß § 14c VOG zuständige Opferhilfe-Einrichtung, einverstanden sind. Das ist derzeit der WEISSE RING, welcher in der allgemeinen Opferhilfe führend tätig ist. Selbstverständlich sollte sich diese Verpflichtung nur auf schwere Gewalttaten beziehen, die der Gesetzgeber allenfalls taxativ aufzählen könnte. Eine solche Bestimmung wäre wohl am sinnvollsten in der StPO im Zusammenhang mit § 10 StPO zu treffen.
Opferhilfe durch den WEISSEN RING
Die Mitarbeiter:innen des WEISSEN RINGS sind Expert:innen darin, Menschen zu begleiten, die Opfer von Gewalt wurden. Wir helfen rasch, kostenlos und unbürokratisch. Sollten Sie selbst Opfer von Gewalt geworden sein oder jemanden kennen, dem Gewalt widerfahren ist, melden sich beim WEISSEN RING.
Beispiele situativer Gewalt
Tatort Arbeitsplatz
Ein Kassier eines Supermarktes wurde überfallen. Der Täter bedrohte ihn mit einer Waffe und verlangte Geld. Als der Kassier, der unter Schock stand, nicht sofort reagierte, schoss der Täter in die Decke über ihm. In panischer Angst räumte das Opfer das Geld aus der Kassa. Der Täter entkam.
Das Ganze ereignete sich kurz vor der Matura des Betroffenen, der jeden Samstag als geringfügig Beschäftigter im Supermarkt arbeitete, um das Taschengeld aufzubessern.
In der Zeit unmittelbar nach dem Überfall war er wie erstarrt, aber „funktionierte“. Nach ein paar Tagen litt er unter Alpträumen und Schlafstörungen. Er wagte sich kaum mehr allein aus dem Haus. Vom Betriebsrat erhielt er die Nummer des WEISSEN RINGS. Der zuständige Berater organisierte ein Kriseninterventionsgespräch und klärte ihn über seine Rechte und Möglichkeiten auf. Inzwischen geht es ihm wieder besser, aber die Angst, dem Täter irgendwann noch einmal zu begegnen, bleibt.
Situative Gewalt – Hate Crime
Ein lesbisches Paar beobachtete bei einem Spaziergang im Park eine Frau, die lautstark mit ihrem Kind schimpfte. Der kleine Bub hatte in der Sandkiste gespielt und sich dabei offenbar schmutzig gemacht. Zuerst wollte das Paar nichts sagen. Aber als die Frau nicht aufhörte zu schreien, sondern ganz im Gegenteil mit immer mehr Nachdruck auf den Buben losging, sprach eine der beiden Frauen sie an. Sie solle aufhören, so herumzuschreien. Die Frau reagierte nicht. Doch ein Mann löste sich aus einer Gruppe und kam auf die Spaziergängerin zu. Sie solle sich nicht einmischen, schließlich sei es ja nicht ihr Kind. Ein weiterer Mann aus der Gruppe begann sie und ihre Partnerin unter anderem als „Kampflesben“ zu beschimpfen und forderte sie auf, zu verschwinden. Dabei kam er immer näher. Noch bevor sie die Polizei verständigen konnte, traf sie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ihre Lippe platzte auf und blutete.
Bis die Polizei eintraf hatten alle außer dem Opfer und ihrer Partnerin den Ort des Geschehens verlassen. Dem Opfer war es jedoch gelungen, ein Foto des Täters und seiner Begleiter zu machen. So konnten diese ausgeforscht werden. Nach der Anzeige kontaktierte die Betroffene auf Empfehlung der Polizei den WEISSEN RING. Sie wurde beraten und erhielt während der Gerichtsverhandlung Beistand – sowohl rechtlich als auch psychosozial. Vor allem die klärenden Gespräche mit der Beraterin haben ihr sehr geholfen. Der Täter wurde wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die homophoben Beschimpfungen waren bei der Verhandlung zwar Thema, wurden aber bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt.
Überfall auf dem Heimweg
Auf dem Heimweg von einem Treffen mit Studienkolleginnen wird eine junge Frau um 3 Uhr in der Früh von einem unbekannten Mann mit einem Messer attackiert. Sie versucht zu flüchten. Er läuft ihr nach und verletzt sie schwer. Passanten kommen dazu und rufen Rettung und Polizei.
Das Opfer war danach zwei Wochen im Spital. Dort riet ihr die Psychologin zu Psychotherapie. Es hat sie einiges an Energie und Kraft gekostet, mit Hilfe der Therapeutin den Abend zu verarbeiten. Auch die körperliche Genesung nahm Zeit in Anspruch. Sie versäumte Prüfungstermine und verlor ein halbes Jahr im Studium.
Einen Monat nach der Tat wurden ihr bei der Einvernahme durch die Polizei Fotos des Täters vorgelegt. Sie konnte ihn eindeutig identifizieren. Dadurch kamen jedoch auch die Erinnerungen an den Abend und die Angst und Hilflosigkeit, die sie empfunden hatte, zurück. Auf der Suche nach Hilfe stieß sie im Internet auf den WEISSEN RING. Sie wurde von einer Opferhilfe-Expertin über ihre Rechte aufgeklärt. Weitere sechs Monate später fand der Geschworenenprozess statt. Die Anklage war auf Mordversuch ausgeweitet worden. Der WEISSE RING sorgte dafür, dass sie sowohl psychosozial begleitet als auch juristisch gut vertreten war. Der Täter wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Zum Weiterlesen
- Presseaussendung zum Tag der Kriminalitätsopfer 2023
- Bericht zur Fachveranstaltung am Tag der Kriminalitätsopfer 2023
06 / 2023