Victim Support Europe Jahreskonferenz 2023

Vom 7. bis 9. Juni fand dieses Jahr die internationale Jahreskonferenz von Victim Support Europe statt. Dieses Mal trat der WEISSE RING Deutschland als Gastgeber auf und lud nach Berlin. Die jährlich stattfindende Konferenz ist eine der größten und einflussreichsten Veranstaltungen für die globale Gemeinschaft der Opferhilfe.

Unter dem Motto „Schutz der Grundfreiheiten – gelebter Opferschutz“ lag der Fokus auf der bedrohlichen globalen Entwicklung zunehmend unter Druck geratener Demokratien und liberaler Systeme. Täglich finden digital und analog Angriffe auf unsere Grundfreiheiten statt – und das in stetig wachsendem Maße. Das Spannungsfeld zwischen zunehmender Verschärfung rechtlicher Regelungen bei gleichzeitiger Wahrung der liberalen, an maximaler Freiheit orientierten Grundwerte stellt den Rechtsstaat vor große Herausforderungen.

Die Anzahl an Straftaten gegen Politiker:innen, Amtsträger:innen, Journalist:innen und Vertreter:innen unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt täglich zu. Und auch die Zahl extremistischer Straftaten, Hassverbrechen sowie struktureller Desinformationskampagnen als Angriff auf die Meinungsfreiheit steigt an.

Mehr als 300 Opferschützerinnen und Opferschützer aus aller Welt haben drei Tage lang nach Antworten und globalen Strategien gesucht. Auf der Tagesordnung standen Fragen wie: Wie lassen sich Hass und Gewalt bekämpfen? Wie opferorientiert arbeitet die Polizei? Wie können Opfer aus Krisengebieten – wie der Ukraine – unterstützt werden?

Die Veranstaltung war die bisher bestbesuchteste Jahreskonferenz von VSE. Es waren Teilnehmer:innen aus zahlreichen europäischen Ländern zu Gast, aber auch aus den USA und Asien.
Opferhelfer:innen an vorderster Front, politische Entscheidungsträger:innen, Ermittlungs- und Strafverfolgungsexpert:innen, Technologieanbieter:innen, Akademiker:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen der Zivilgesellschaft konnten sich austauschen. Ein Aspekt, der dem WEISSEN RING sehr wichtig ist, denn internationale Kontakte und eine gute Vernetzung sind eine Grundvoraussetzung für nachhaltige und erfolgreiche Opferhilfe.

Ein paar inhaltliche Highlights der Konferenz

Brigitta Pongratz, Leiterin Services und Pressesprecherin des WEISSEN RINGS Österreich, hat an der Konferenz teilgenommen. Wir haben sie nach ihren Eindrücken gefragt.„Die Konferenz hat wieder einmal gezeigt wie wichtig es ist, international in Kontakt zu bleiben und an der Entwicklung teilzunehmen“, bestätigt Pongratz die Bedeutung des Austauschs. „Mit Keynotes, Panells und Workshops erhielten die Teilnehmer:innen zahlreiche Anregungen für die eigene Arbeit, Möglichkeit zum persönlichen Austausch und auch dazu, in nicht so vertraute Themen der Opferarbeit einzutauchen.“

Eigentlich hätte die Konferenz in Berlin bereits 2020 – zur Feier des 30. Geburtstags von VSE – stattfinden sollen, wie Rosa Jansen, Präsidentin VSE, in ihrer Eröffnungsansprache erwähnte. Umso erfreulicher war es daher, dass nun nicht nur Gäste aus ganz Europa sondern auch aus den USA und Asien angereist waren. So nutzten Präsident Yong Woo Lee und Vizepräsident Hak Seok Kim die Gelegenheit, sich für die Unterstützung durch VSE beim Aufbau von Victim Support Asia zu bedanken. Hak Seok Kim unterstrich, dass aus seiner Sicht die EU-Gesetzgebung der weltweite Standard für Opferhilfe und Opferrechte sei.

Rosa Jansen verwies darauf, dass sich mit den aktuellen Initiativen zur Überarbeitung der EU-Opferschutz-Richtlinie ein Fenster der Möglichkeiten geöffnet habe, die Opferrechte in Europa noch weiter zu verbessern – insbesondere für die Themen geschlechtsspezifische Gewalt, Kindesmissbrauch, Menschenhandel und Hate Speech.

Spurensuche

Astrid Passin, deren Vater beim islamistischen Attentat am Breitscheidplatz in Berlin im Jahr 2016 getötet wurde, nahm die Zuhörer:innen mit auf eine berührende Spurensuche. Sie ließ sie teilhaben an den traumatischen Folgen des Anschlags und an der Vielfalt offener Fragen, von denen bis zum heutigen Tag nicht alle beantwortet sind, an Trauer und Verständnislosigkeit – ihrer eigenen ebenso wie der ihres Umfelds. So erinnert sich Passin an den Anruf des Bürgermeisters von Berlin drei Monate nach dem Anschlag mit den Worten: „Wir sind verwirrt. Warum erst jetzt?“ Sie beschreibt, wie sich die Erstellung von Gutachten als Verhör anfühlten und vielfach als Versuch, die Opfer als Simulant:innen darzustellen. „Es kann nicht sein, dass das Ziel der Begutachtung ist, den Betrag zu drücken.“

Passin forderte – wie auch weitere Redner:innen nach ihr – dazu auf, einen Gedenktag für die Opfer von Terrorismus zu begehen. Der in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Termin ist der 11. März, der auf den Anschlag von Madrid am 11.3.2004 Bezug nimmt und von der EU als Europäischer Gedenktag für die Opfer des Terrorismus begangen wird.

Die ganze Rede steht im Internet zur Verfügung und kann hier nachgehört und nachgelesen werden.

Europäische Kommission als Partnerin

Die Veranstaltung wir von der EU mitfinanziert. Die beiden Vertreter:innen der Europäischen Kommission, Richard Sonnenschein und Katarzyna Janicka-Pawlowska, sprachen Victim Support Europe und allen Opferhilfe- und Opferschutz-Einrichtungen bzw. deren Vertreter:innen ihren Dank für die geleistete Arbeit aus. Janicka-Pawlowska sprach neben den laufenden gesetzlichen Maßnahmen im Interesse der Opfer auch andere Maßnahmen an, wie die aktuelle Kampagne „Keep your Eyes Open“ und schloss mit den Worten: „We cannot build democracy in one day. We cannot improve victims’ rights in one day. We in the European Commission are very happy to have you all in this.“ (Wir können die Demokratie nicht innerhalb eines Tages aufbauen. Wir können die Opferrechte nicht an einem Tag verbessern. Wir in der Europäischen Kommission sind sehr glücklich, Sie alle an unserer Seite zu wissen.)

Umgang mit einer Gesellschaft, die sich verändert

Populismus, bedrohte Minderheiten, Radikalisierung, die abnehmende Bereitschaft die Sichtweisen anderer zu akzeptieren, eine immer stärker werdende Trennung zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wurden am ersten Konferenztag ebenso diskutiert wie die Frage, wie Opferhilfe junge Menschen erreichen kann.

So warb Tom De Bruyne dafür, Populismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die Logik dahinter ist bestechend: Populismus lebt davon, zwei Lager zu schaffen – wir und die anderen –, einfache Lösungen für komplexe Fragen anzubieten und schließlich lädt er zu einem „aufregenden Kampf“ ein. Legt man diesen Mechanismus der zwei Lager auf die Opferhilfe um, stellt sich rasch heraus, dass es auch hier zwei Gruppen gibt, nämlich Opfer und Täter:innen. Doch hier will niemand Teil dieser beiden Lager sein. Das mache es auch so schwer, Partei für Opfer zu ergreifen. Denn damit werde man Teil dieser Gruppe. De Bruyne fordert dazu auf, ein Umfeld zu schaffen, das es leicht macht, sich gegen Unerwünschtes zu wenden. Es geht also um Reframing, oder wie er es ausdrückte: „Move the window of what is normal in society. Rethink the labels we give.“

Die Journalistin Lauren Walker forderte dazu auf, Medien mit Fakten zu unterstützen. Elie Kagan vom Jewish Congress sprach von einer neuen Normalität, in der wir leben, in der die Bedrohung durch Terrorismus insbesondere für religiöse Minderheiten einfach dazu gehöre.

Aber nicht nur diese werden bedroht und brauchen Unterstützung. Katherina Wall stellte die Initiative „Stark im Amt“ vor, die kommunalen Amtsträger in Deutschland unterstützt. Diese erleben – so die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2020 – ein Ansteigen der Gewalt in der deutschen Gesellschaft. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Männer und Frauen in politischen Funktionen gleich oft bedroht werden. Allerdings erhalten Frauen mehr sexualisierte Drohungen und auch ihre Familien werden öfter mit einbezogen als das bei Männern geschieht.

Um junge Menschen besser zu erreichen, kooperiert der WEISSE RING Deutschland mit der E-Sports League der deutschen Universitäten. Außerdem wurden in letzter Zeit gezielt junge Freiwillige rekrutiert.

Gemeinsam mit der Polizei für die Opfer

Am zweiten Konferenztag stand die Frage nach Opfer orientierter Polizeiarbeit im Mittelpunkt. Victim Support Europe hat zu dem Thema im Jahr 2023 unter dem Titel „Safe Justice for Victims of Crime“ ein Diskussionspapier veröffentlicht.

Ben Bradford vom University College London verwies darauf, dass Menschen gerade beim Umgang mit Autoritätspersonen wie der Polizei vor allem vier Dinge erwarten: Diese sollen unparteiisch sein, dem Gegenüber mit Respekt begegnen und ihm / ihr zuhören und sie sollen vertrauenswürdig sein. John Letteney, IACP, schilderte den Weg der IACP auf dem Weg zu einem besseren Umgang der Polizei mit Opfern von Straftaten und betonte: „Das Vertrauen der Gemeinschaft und Opfer orientierter Zugang hängen zusammen.“

Staci Beers vom FBI formulierte: „Victims are volunteers.“ (Opfer sind Freiwillige.) Und als solche müssten sie durch die Polizei auch behandelt werden. Es gehe in der Polizeiarbeit beim Umgang mit Opfern um vier zentrale Themen: Sicherheit (Was braucht das Opfer, um sich sicher zu fühlen?), Transparenz (dem Opfer das Gefühl zu geben, Teil des Prozesses zu sein), Zusammenarbeit und Empowerment.

In diesem Zusammenhang blieben die Worte von Elena Sanchez, LGTBIpol, im Ohr: „Trust is very easy to loose and very difficult to recover.“

Zum Weiterlesen

06 / 2023

Diesen Beitrag teilen: