Das Ende einer Ära

Udo Jesionek verabschiedet sich in den Ruhestand. Er hat bei der außerordentlichen Generalversammlung am 26.1.2024 nach 33 Jahren als Präsident des WEISSEN RINGS dieses Amt niedergelegt.

Unermüdlich für Opfer im Einsatz

Udo Jesionek gehörte zu einem Kreis engagierter Personen, die 1978 einen Verein gründeten, um sich für die Rechte und Bedürfnisse von Verbrechensopfern einzusetzen. Als letztes lebendes Gründungsmitglied und seit 1991 auch Präsident des WEISSEN RINGS zieht er sich nun nach 46 Jahren zurück und legt seine Funktion nieder. In Zukunft wird er den WEISSEN RING als Ehrenpräsident begleiten.

In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich Jesionek nicht nur unermüdlich für Opfer von Gewaltverbrechen eingesetzt, sondern vor allem auch ihre Rechte vertreten und mit viel Elan stetig vorangetrieben, aktiv mitgestaltet und weiterentwickelt. Er wird zu Recht von vielen als das Herz und die Seele des WEISSEN RINGS bezeichnet. Es ist daher auch nicht überraschend, dass seine Funktion als Präsident nicht einfach nachbesetzt sondern von einem Präsidium übernommen wird.

In Kürze zusammenzufassen, was Udo Jesionek in seinem bisherigen Leben vollbracht hat, gleicht der Herausforderung, das österreichische Strafrecht in wenigen Worten wiederzugeben: Es ist so gut wie unmöglich.

Mit über 25 Funktionen, die er neben seinem Beruf und auch nach Pensionsantritt ausübte, etlichen Ehrungen und Ehrenmitgliedschaften und über 500 Publikationen hat er in nur einem Leben erreicht, wozu andere mehrere Leben bräuchten. Eines allein dafür, um alle Publikationen von Udo Jesionek zu lesen. Wir haben das Unmögliche gewagt und einen kurzen Überblick versucht. Das Ergebnis finden Sie hier.

Aber vor allem hat sich Udo Jesionek Zeit für ein Gespräch genommen und uns erzählt, was ihm im Rückblick wichtig ist und wie er die Zukunft sieht. Wir wünschen eine interessante Lektüre!

Udo Jesionek im Gespräch

WEISSER RING: Herr Jesionek, als Gründungsmitglied sind Sie nun schon 46 Jahre, also fast ein halbes Jahrhundert, für den WEISSEN RING im Einsatz. Wenn Sie an die Anfänge zurückdenken – hat sich alles so entwickelt, wie Sie sich das damals vorgestellt haben?

Udo Jesionek: Ich habe mir nicht vorgestellt, dass es so groß wird. Ich habe mir gedacht, wir werden so wie andere kleine Organisationen etwas tun, aber dass es derartige Ausmaße erreicht, habe ich mir nicht vorgestellt. Wir sind von einem kleinen Verein engagierter Persönlichkeiten zu einem Mittelbetrieb mit allen Vor- und Nachteilen geworden. Am Anfang haben wir uns einfach zusammengesetzt und ein bisserl versucht was geht mit ganz minimalen Geldbeträgen. Und wir hatten auch noch gar keine Psychologen, gar nichts. Die Vergrößerung des Vereins kam dann stufenweise durch die Veränderungen im Verbrechensopfergesetz, die wir stark mitbeeinflusst haben und auch einfach dadurch, dass wir dann Gelder, also Spenden, akquirieren und dadurch Büros vergrößern und Mitarbeiter einstellen konnten.
Am Anfang waren es ja ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Jetzt haben wir in den Büros fix angestellte Mitarbeiter und das ist auch wichtig. Ehrenamtliche haben ein großes Engagement, aber wenn die Person dann plötzlich nicht mehr will, ist sie von einem auf den anderen Tag weg. Angestellte verpflichten sich da zu sein. Und das ist ganz wichtig für die Infrastruktur, die wir inzwischen in ganz Österreich haben.

Udo Jesionek bei einem Radio-Interview im Jahr 2018, Foto WEISSER RING / Brigitta Pongratz

WEISSER RING: Wenn Sie jetzt zurückblicken auf Ihre Zeit beim WEISSEN RING – was würden Sie als Ihren größten persönlichen Erfolg bezeichnen?

Udo Jesionek: Dass der WEISSE RING an sich so groß geworden ist, daran hab ich, glaub ich, sehr stark mitgewirkt und das macht mich stolz.

WEISSER RING: Und was würden Sie rückblickend als den größten bisherigen Erfolg des WEISSEN RINGS bezeichnen?

Udo Jesionek: Der größte Durchbruch waren die Veränderungen im Verbrechensopfergesetz in puncto Kriseninterventions- und Psychotherapiekostenübernahme. Also, dass das genehmigt worden ist, war ganz, ganz wichtig. Und zwar nicht nur für unmittelbar Betroffene. Beim Terroranschlag in Wien 2020 hat sich wieder gezeigt, wie wichtig psychotherapeutische Hilfe auch für mittelbare Opfer ist – nicht nur für die Terroropfer, die angeschossen worden sind, sondern auch für jene, die zitternd im Keller gesessen sind. Das ist ein großer Markstein gewesen.
Und der vielleicht größte Markstein war, dass wir beim Sozialminister Rudolf Hundstorfer (Sozialminister 2008 – 2016) erreicht haben, dass der WEISSE RING als allgemeine Opferhilfe-Organisation anerkannt und festgeschrieben wurde. Woraus wir natürlich wieder Konsequenzen auch in Hinblick auf die Subventionen ziehen können.

WEISSER RING: Gibt es irgendein Erlebnis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Udo Jesionek: Es gibt da ein sehr lustiges Erlebnis, das ich immer wieder gerne erzähle: Wir hatten mit Franz Grünbart (Landesleiter Oberösterreich, 1992 – 2022) einen sehr engagierten Mitarbeiter, ein Gendarm und später Polizist aus Oberösterreich, der sehr aktiv war. Er war bei den Kiwanis und hat mich einmal eingeladen nach Oberösterreich zu einer Feier. Im Zuge der Feier stand ich auf der Bühne und er überreichte mir einen Scheck. Ich schaute auf den Scheck und wusste nicht, ob es 100.000 oder doch nur 10.000 Schilling sind. Ich war mir sehr unsicher beim Bedanken und alle haben sehr darüber gelacht. 100.000 Schilling, das war damals sehr, sehr viel Geld. Und ist auch heute noch viel Geld, auch wenn es in Euro nach weniger klingt. Das war ein Erlebnis, das mir immer in Erinnerung geblieben ist.

Und dann vielleicht auch die Feier im Parlament, die ich mitinitiiert habe – die Entschuldigung der Republik für die Missbrauchsopfer (Staatsakt „Geste der Verantwortung“ am 17.11.2016). Das war auch nicht leicht und das ist mir damals gelungen.

WEISSER RING: Welche Persönlichkeiten oder Begegnungen haben den größten Eindruck hinterlassen und warum?

Udo Jesionek: Stark geprägt haben mich meine vielen Gespräche mit Rudolf Kirchschläger (Bundespräsident 1974 – 1986), Bruno Kreisky (Bundeskanzler 1970 – 1983), Christian Broda (Justizminister 1960 – 1966 und 1970 – 1983) oder auch Johanna Dohnal (Frauenstaatssekretärin 1971 – 1990, Frauenministerin 1991 – 1995). Das waren wirklich Persönlichkeiten, von denen ich auch viel gelernt habe und die mich stark geprägt haben.

Und was den WEISSEN RING betrifft, natürlich einige sehr erschütternde Gespräche mit Opfern. Ich versuche ja, persönliche Gespräche mit Opfern nicht zu führen, weil ich kein Therapeut bin und dann vielleicht mehr Schaden anrichte. Aber manche haben eben doch mit mir gesprochen und sind in Tränen ausgebrochen in Erinnerung an das, was ihnen passiert ist. Und ja, das ist schon schwer. Und dann hat man eben die Freude, dass man ihnen helfen kann. Ein Missbrauchsopfer hat mit mir einmal über die Therapie gesprochen und gemeint: „Wissen Sie, ich bringe das nicht weg, aber ich kann damit leben.“ Noch ein Beispiel dafür wie wichtig es ist, dass es uns gelungen ist, Psychotherapie einzusetzen. Und ein solches Feedback bereitet natürlich Freude. Dass man weiß, dass man helfen konnte.

WEISSER RING: Was hilft Ihnen in solchen Momenten, in denen Leute mit einer so großen Last zu Ihnen kommen, sich abzugrenzen und es nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen?

Udo Jesionek: Naja, man muss dann versuchen, das abzubremsen. Genauso wie ein Unfallchirurg nicht einfach umfallen kann, wenn er grausliche Dinge sieht. Man muss versuchen das abzutun, denn man fühlt natürlich schon mit und bekommt das nicht ganz weg. Aber an sich muss man versuchen, neutral zu werden. Denn sonst kann man auch gar nicht helfen. Wenn man in Mitleid zerfließt, bringt das nicht viel.

Ich glaube es ist auch eine Frage der Mentalität, ob man so etwas kann. Ich habe das bei jungen Richtern erlebt. Ich kann mich an zwei Fälle erinnern, die sind zerbrochen an der Entscheidung, die sie treffen mussten. Ich glaube, das ist Mentalitätssache. Ich weiß nicht, ob man das trainieren kann – zu einem gewissen Maß vielleicht. Aber man merkt selbst, ob man das kann oder nicht. Ich erinnere mich an einen Mitarbeiter hier beim WEISSEN RING, der nach kurzer Zeit wieder ausgeschieden ist, weil es ihn zu sehr belastet hat. Also das ist, glaube ich, eine Sache, die dir mitgegeben ist und die du hast. Die du natürlich ein bisschen steuern kannst. Vielleicht aber auch nicht. Mitleid oder Mitgefühl – das ist etwas, das hat man oder man hat es nicht. Man sollte Mitgefühl haben, aber nicht mitleiden. Das ist ein großes Thema in der Ausbildung von Therapeuten. Die sind da am meisten gefordert.

WEISSER RING: Sie haben über 25 Funktionen, neben Ihrem Beruf ausgeübt, etliche Ehrungen und Ehrenmitgliedschaften erhalten und über 500 Publikationen herausgebracht. Wie schafft man das in nur einem Leben?

Udo Jesionek: Das klingt viel, ergibt sich aber aus dem Alter und den Interessen. Und bei den 500 Publikationen sind viele parallel in mehreren Sprachen erschienen – in Japanisch, in Katalanisch, in Spanisch, Italienisch, in Englisch natürlich, aber auch Serbokroatisch. Ich kann sie aber nicht lesen, vor allem die Japanischen. Da wüsste ich nicht einmal, wo ich anfangen soll.

Sehr spannend war für mich die Professur. Die vielen Publikationen haben dazu geführt, dass ich eine Honorarprofessur bekommen habe, und Habilitationen und Dissertationen abgenommen habe, obwohl ich selber weder Dissertation noch Habilitation gemacht habe. Das hat mich natürlich sehr gefreut damals. Und auch das Weitergeben – ich habe sehr gern vorgetragen, sehr gerne mit den Studenten gearbeitet. Lyane Sautner, meine Vizepräsidentin, war auch Studentin bei mir und hat gemeint, es hätte ihr gefallen, dass ich so lebendig und aus der Praxis vortragen habe. Das freut mich natürlich. Ich habe es auch gern gemacht, aber jetzt ist es mir zu viel. Voriges Jahr habe ich es aufgegeben. Ich mache auch kaum mehr Vorträge. Irgendwann muss Schluss sein.

WEISSER RING: Was würden Sie als die größten Meilensteine Ihrer Karriere bezeichnen?

Udo Jesionek: Naja, die Meilensteine sind, einerseits, dass es mir gelungen ist, die Externistenmatura abzulegen – ich bin ja gelernter Werkzeugmacher – die Ernennung zum Richter und ganz wesentlich war für mich die Ernennung zum Präsidenten des Jugendgerichtshofs. Dass ich da dann mitwirken konnte an einem modernen neuen Jugendgerichtsgesetz, das war schon etwas Besonderes und dann natürlich alles, was mit dem WEISSEN RING zusammenhängt.

WEISSER RING: Besonders beeindruckend ist auch Ihr Zugang zu – insbesonders jugendlichen – Straftätern. Sie vertreten eine aufgeschlossene Kriminalpolitik, die sich an Menschlichkeit und Vernunft orientiert.

Udo Jesionek: In meinem Büro beim WEISSEN RING hängt ein Bild, das ich in Köln entdeckt habe. Darauf steht der Spruch: „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, dann brauche ich es am dringendsten.“ Man sollte versuchen, ein Kind auch dann zu lieben, wenn es gerade besonders ekelhaft ist. Das ist nicht immer ganz einfach, das kennt man ja auch als Elternteil. Als Richter war es für mich ganz wichtig, dass man, egal was die Jugendlichen angestellt haben, trotzdem versucht, zwar natürlich zu urteilen, aber dabei zu helfen, indem man ein sinnvolles Urteil trifft, das einerseits den Unwert wiedergibt, aber andererseits vor allem den Jugendlichen weiterhilft.
Ich habe in meiner Zeit als Richter mit vielen Häftlingen geredet. Es ist wichtig zu erfahren, was in den Leuten vorgeht, damit man sich hineinfühlen kann. Wenn man etwas selbst nicht erlebt, ist es einem oft gar nicht bewusst. Deshalb habe ich immer versucht zu erleben.

Was man selbst erlebt hat, prägt einen. Was ein anderer erzählt oder geschrieben hat, das kann stimmen, muss es aber nicht.

WEISSER RING: Gibt es irgendetwas, das Sie gerne noch erreicht hätten, das sich aber bisher nicht ausgegangen ist?

Udo Jesionek: Eigentlich nicht. Es ist sich viel ausgegangen und ich will nicht undankbar sein.

WEISSER RING: Sie haben einmal gesagt, dass Sie erst in den Ruhestand gehen, wenn Sie die Gleichstellung von Opfern situativer Gewalt mit Opfern von Gewalt im persönlichen Nahbereich erreicht haben – also die automatische Weitergabe der Daten von Opfern situativer Gewalt durch die Polizei an Opferschutz-Einrichtungen.

Udo Jesionek: Ja, das stimmt. Aber die Justizministerin hat im Jänner versprochen, dass das kommt und somit kann ich auch mit gutem Gewissen in Pension gehen. Ja, also ich hoffe, die Gesetzesnovelle kommt jetzt tatsächlich.

Ich habe mein Leben lang einen Kampf gegen die Bürokratie geführt. Wann immer man mit etwas Neuem kommt, bekommt man dasselbe zu hören: „Ah, da könnt ja jeder kommen.“ und „Das haben wir immer schon so gemacht.“ Vor allem die Beamten blocken stark ab. Politiker sind manchmal durchaus bereit, aber die Beamten blocken. Also was ich gekämpft habe gegen die Bürokratie. Deswegen bin ich auch nicht sehr beliebt gewesen im Justizministerium – bei den Beamten. Bei den Ministern ging’s ja, aber bei den Beamten nicht, weil ich mich ständig aufgeregt habe über den völligen Unsinn und das Beharrungsvermögen. Manchmal ist Beharrungsvermögen ja auch etwas Gutes. Man muss ja nicht jeden Blödsinn mitmachen, aber man sollte offen sein für neue Ideen. Was ich gekämpft habe um das neue Jugendgerichtsgesetz und auch zum Teil jetzt im Verbrechensopfergesetz. Aber das macht die Arbeit natürlich auch spannend und belebt.

WEISSER RING: Wie stellen Sie sich die Entwicklung des WEISSEN RINGS in den nächsten 50 Jahren vor?

Udo Jesionek: Der WEISSE RING soll sich so wie jetzt sukzessive weiterentwickeln. Man sollte nur versuchen zu verhindern, dass zu viel Bürokratie eindringt. Das ist immer die Gefahr bei solchen Dingen. Und es sollten die Ehrenamtlichen wieder gestärkt werden. Da gibt es auch verschiedene Meinungen bei uns, aber ich denke das wäre gut. Ansonsten soll es sich so weiterentwickeln wie jetzt. Das ist eigentlich ganz gut. Nicht zu sprunghaft, aber doch so, dass letztlich jeder, der in Österreich Opfer geworden ist, weiß, ich kann mich wohin wenden und ich bekomme Hilfe – mit mehr oder minder Erfolg. Aber ich bekomme Hilfe. Das wäre wichtig. Und wenn das Opfer nicht will, dann braucht es ja nicht.

WEISSER RING: Was hat Sie dorthin gebracht, wo Sie heute sind? Was würden Sie sagen, ist Ihre größte persönliche Stärke?

Udo Jesionek: Ja, dass ich beharrlich bin. Es gibt zwei Sprichwörter, die mein Leben geprägt haben, das eine von Erich Kästner, das andere von Dante Alighieri. Das von Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ und das zweite von Dante Alighieri aus der göttlichen Komödie: „Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie kräftig an – und handelt.“

Die meisten jammern nur. Versuch’ was zu ändern! Ich habe gesehen, dass man etwas ändern kann. Man muss es artikulieren und schauen. Was Dohnal zum Beispiel alles erreicht hat für die Frauen. Das war unheimlich. Sie hatte keinen Rückhalt und Kreisky war gar nicht so begeistert von ihr. Wenn man überzeugt ist, dass etwas richtig ist, dann soll man dafür kämpfen, soweit man das in seinem Bereich kann und sich dann Mitstreiter suchen. Aber nicht einfach „motschgern“. Sehr viele Sachen, über die man „motschgert“, die kann man ändern. Oder man kann versuchen, sie zu ändern. Vor allem mit den richtigen Mitstreitern. Auch der WEISSE RING wäre nie so groß geworden ohne Mitstreiter und Mitarbeiter.

WEISSER RING: Was möchten Sie Ihren Nachfolger:innen beim WEISSEN RING für den zukünftigen Weg mitgeben?

Udo Jesionek: Ich möchte keine Ratschläge geben. Meine Nachfolger sollen selber arbeiten. In dem Geist, den wir hier haben, der gemeinsam da ist. Das habe ich immer versucht zu beherzigen, auch wenn es mir nicht immer gelungen ist. Die Alten glauben immer, sie sind so gescheit und sagen, die Jugendlichen müssen es auch so machen. Wenn neue Anforderungen kommen, sollen sie auch ihr Ding machen und neue Sachen versuchen. Einstweilen spiele ich ohnehin noch mit. Ich habe ja als Ehrenpräsident einen Sitz im Präsidium. Also kann ich schon noch mitspielen. Aber an sich sollen das primär meine Nachfolger machen und ich versuche mich auch zurückzunehmen. Ich habe auch in den letzten Jahren schon versucht, mich zurückzunehmen. Ich habe ja eine relative Popularität bei den Journalisten und habe zuletzt immer wieder gesagt, dass die anderen kommen. Damit der WEISSE RING nicht der Jesionek ist, der aus dem Fernsehapparat spricht, sondern verschiedene Menschen. Also ich habe mich selbst zurückgenommen, denn ich brauche das für mein Ego nicht, ich war ohnehin so bekannt. Deshalb war mir das ganz wichtig. Und die Jungen leben dann natürlich auf. Und wenn es eine spezielle Frage aus der Öffentlichkeit gibt, dann soll die Person, die beim WEISSEN RING genau dafür zuständig ist, reden. Warum soll immer ich reden? Und das ist mir gelungen.

Natürlich auch dank Brigitta Pongratz, die für den WEISSEN RING die Öffentlichkeitsarbeit macht und da auch was weiterbringt. Das ist auch nicht so einfach. Das musst du ja haben, das kannst nicht lernen. Natürlich kannst viel lernen, aber du musst es auch können.

WEISSER RING: Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben? Oder gibt es etwas, das Sie im Nachhinein gerne anders gemacht hätten?

Udo Jesionek: Schauen Sie, ich bin 86. Ich habe viel erreicht. Ich bin bekannt, bekannter will ich gar nicht werden. Das brauche ich nicht mehr. Das Abgeklärte – das hat schon auch seinen Vorteil, wenn man älter ist. Meine Mutter hat einmal gesagt: „Udo, genieße jeden Abschnitt deines Lebens, denn jeder hat einen Vorteil.“ Es hat ja keinen Sinn, wenn ich jetzt jammer, was ich alles nicht mehr kann. Ich kann bewusst leben und jeden Tag betrachte ich als geschenkten Tag. Ich weiß ja nicht, ob ich noch zehn Jahre lebe oder einen Monat. Also so gesehen bin ich an sich zufrieden. Natürlich gibt es Sachen, die ich anders gemacht hätte. Aber ich weiß ja auch nicht, was dann gewesen wäre, wenn ich es anders gemacht hätte.

Zum Beispiel als ich ein junger Richter war, und kein Geld verdient habe, habe ich viele Lebensmittelfälle gehabt und mir wurde angetragen, die Leitung einer Lebensmittelversuchsanstalt mit dreifachem Gehalt und allem, was dazugehört zu übernehmen. Das war für mich eine wahnsinnig schwere Entscheidung. Aber am Ende wollte ich doch Richter bleiben. Ich wäre wahrscheinlich auch kein guter Anwalt gewesen. Vielleicht. Aber ich kann nur dann gut sein, wenn ich überzeugt bin von dem, was ich mache. Wenn ich etwas vertreten muss, von dem ich nicht überzeugt bin, das fällt mir schwer. Das kann ich vielleicht schon eloquent, aber irgendwie. Ich muss überzeugt sein von etwas und dann kämpfe ich. Und als Anwalt muss ich logischerweise auch Sachen vertreten, von denen ich nicht überzeugt bin. Darum bin ich also Richter geblieben. Als Richter kann ich versuchen, Recht zu finden. Und so bin ich dann ja auch in Kontakt gekommen mit Broda und Kreisky und so. Und dann war ich ja Präsident des Jugendgerichtshofs und in der Richtervereinigung. Das war schon eine sehr interessante Zeit.

WEISSER RING: Wofür sind Sie besonders dankbar?

Udo Jesionek: Ja, dass es mir gegeben war, so alt zu werden und einigermaßen geistig noch fit zu sein. Körperlich bin ich ja nicht mehr fit, aber geistig doch, dafür bin ich echt dankbar. Das ist nicht selbstverständlich. Und ich könnte jetzt meine Wehwehchen aufzählen eine halbe Stunde lang, aber das ärgert mich immer wieder, wenn Leute das tun. Was interessiert das den anderen? Wenn du 50 bist und du wachst auf und es tut dir nichts weh, dann bist tot – hat einmal einer gesagt. Ich bin dankbar, dass ich alles so frisch erleben kann und jetzt als Ehrenpräsident auch noch weiterwerkeln kann, ohne die Verantwortung zu haben. Das ist auch einmal ganz gut. Ich bin kein Mensch, der in der Pension daheimsitzt und Tauben füttert. Das kann ich mir nicht vorstellen. Seit meinem 14. Lebensjahr als Lehrling arbeite ich. Ich brauche das. Ich brauche eine Aufgabe. Nur das machen, was man gern macht, ist dann auch wieder fad mit der Zeit.

Udo Jesionek beim Tag der Kriminalitätsopfer 2023, Foto LPD Wien/Bernhard Elbe

WEISSER RING: Wenn Sie eine Sache in der Welt grundlegend verändern oder abschaffen könnten, was wäre das?

Udo Jesionek: Wenn es gelänge, durch irgendeine Macht zu verhindern, dass irgendwo Kriege ausbrechen, das wäre was. Ich habe den Krieg ja noch erlebt. Wir haben in der Schule gelernt, dass wir uns in Straßengraben werfen, wenn die Tiefflieger kommen. Ich war verschüttet. Wir waren damals in Budweis, mein Vater war schon gefallen und wir waren im Luftschutzkeller. Und nur unser Eck hat überlebt, alle anderen waren tot. Ich kann mich heute noch erinnern. Die Soldaten haben uns ausgebuddelt. Ich sehe noch die Hand und rieche heut noch den Schotter da, diesen Duft. Das ist etwas, was mich stark geprägt hat. Wenn wir zehn Meter weiter im Keller gewesen wären, wären wir tot gewesen. Und dann die Flucht nach Österreich. Die Kindheit war nicht schön, leider. Aber dann habe ich etwas weitergebracht und versucht, dem Leben einen Sinn zu geben.

Und jetzt führen diese Trotteln da wieder Krieg und das ganze Elend … Und es heißt auch in Österreich wieder, wir müssen aufrüsten und militarisieren. Und man sagt irgendwie ja, aber will es nicht glauben. Jetzt haben wir so viele Jahre so friedlich gelebt bei uns und ich hoffe, dass das so bleibt. Ich hoffe, dass ich das nicht mehr erlebe. Ich möchte gar nicht daran denken. Man soll halt versuchen, soweit es geht, dagegen zu wirken.

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Titelfoto: Jänner 2024, WEISSER RING / Natascha Smertnig

02 / 2024

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